Das Mail Art-Archiv als wichtige Ergänzungsquelle für historische Kunstforschung
Von Dr. Klaus Groh
Ein Archiv als wichtige Ergänzungsquelle für historische Kunstforschung. Das MailArt-Archiv von Niels Lomholt in Dänemark und Mail Art / Correspondence Art – eine künstlerische unbedeutende Randaktivität oder ein ernstzunehmendes Betätigungsfeld für freie Kommunikation zwischen den Völkern?
Ja, es ist bereits Geschichte. Die Mail-Art im ursprünglichen Sinn, ist Vergangenheit. Sie war wichtig in Zeiten des „Kalten Krieges“ , vor dem „Fall der Mauer“, in unterdrückten Ländern, in den sozialistischen Ländern Osteuropas und in den lateinamerikanischen Militärdiktaturen. Künstler korrespondierten grenzüberschreitend, weltweit, trickreich und intelligent.
Nur wenige historische Einrichtungen, Museen und Archive, sehen die große Bedeutung in dieser artistischen weltweiten Bewegung. „International-Mail-Art-Movement (IMAM). Historisch gesehen, einmalig. Es gibt in der gesamten Kulturgeschichte kein Beispiel globaler, wirklich grenzenloser Kooperation. Sogar innerhalb geschichtlich gewachsene –Ismen fanden Rivalitäten statt, in der Mail-Art kam so etwas nicht vor. „No, Jury, No Award“.
Niels Lomholts Mail Art Archiv hat historisch gesehen, eine der größten Bedeutungen in der aktuellen und auch späteren Kunstgeschichte. Von der Natur der Sache wird als materielle Reliquie nichts übrig bleiben. Mail Art ist vergänglich. Große weitsichtige Menschen, wie Niels Lomholt z.B., haben den Wert ihrer Arbeit erkannt. Sie werden unserer Zukunft die vergangene Gegenwart immer präsent machen.
Was war und ist die Mail Art ?
„Könnten Sie sich eine Welt ohne Briefe vorstellen? Ohne gute Seelen, die Briefe schreiben, ohne andere Seelen, die diese Briefe lesen und sich daran laben, eine Welt ohne Absender, Empfänger und Briefträger ?? Der einzige Ort, wo ich mir eine derartige Welt vorstellen kann, es ist der Hades; ich habe beglaubigte Nachrichten, dass die Ober- und Unterteufel einander nie schreiben".1. Das schrieb einmal der spanische Schriftsteller Pedro Salinas.
Dass Briefe und das Briefschreiben ein Medium der Massenkultur ist, daran besteht kein Zweifel. Dass aber die Auseinandersetzung mit dem postalischen Kommunikationsphänomen etwas mit Kunst zu tun haben soll, das ist schon merkwürdig.
Neben den „alternativen“ künstlerischen Äußerungen, im Gegensatz zu den tradierten ästhetischen Kunstpraktiken, hat sich seit den 50er/60er Jahren eine Abwendung vom Werk-Gegenstand, also eine Abwendung von der autonomen Existenz eines in sich geschlossenen ästhetischen Produktes, vollzogen, hin zu Kunstprozessen, in deren Verlauf Spuren zurückbleiben, als Reste, als Abfälle, als Denkauslöser von kurzer LEBENSDAUER: das Happening, das experimentelle Theater, der Aktionismus oder die Performance-Art sind hier zu nennen. Wenig, fast nichts wird überleben, ebenso wie wichtige Worte, Philosophie von denkenden Menschen. Der Kreis „Künstler-Werk-Galerie-Sammler“ wurde zerstört. Es entstand ein neues, in der Kunst bis dahin recht ungewöhnliches Bezugsdreieck „Künstler-Werk-Empfänger“, wobei der Empfänger nicht anonym bleibt, sondern auch als Reagierender direkt in den Kommunikationsprozess dann auch in umgekehrter Weise sich einschalten kann, d.h., der Empfänger wird Künstler und der Künstler wird Empfänger, und das im endlosen Wechselspiel. Der übliche konsumierende Empfänger, Kunstbetrachter, einer ästhetischen Botschaft, wird aktiver reagierender Empfänger und somit Teil des ästhetischen Kommunikationsprozesses.
„Bei der Mail Art geht es um die Handlungsbereiche: Herstellen – Absenden – Empfangen - Weitermachen“.2
Ob die Mail Art im tradierten Kunstkanon jemals eine Stimme haben wird, ist ungewiss; ob sie im kommerzialisierten Kunstaustausch irgendwann einen Tauschwert haben wird, ist noch ungewisser. Ganz sicher allerdings kann man feststellen, dass die Mail Art als eine allgemeine humane interpersonelle Resonanz im sozialen Handlungsraum nicht überhörbare Signale abgibt. Stimulierend dafür ist weder eine akademisch ästhetisierende Komponente, noch irgendein anderes Merkmal der ästhetischen Tradition, sondern die einzige Orientierung ist die soziale Realität. In der festgefahrenen fremdbestimmten sozialen Umwelt geht es den Mail Art Künstlern in erster Linie um eine Wiederherstellung des menschlichen Dialogs (Kommunikation), es geht um eine breite Demokratisierung von Sinneserlebnissen.3 Es wird keine Mail-Art-Idee in irgendeinem Wohnzimmer aufbewahrt; der philosophische Gedanke muß wie eine realisierbare friedliche Lebensform wirken, wozu aufbewahrende Archive die größte Rolle spielen. Geschriebene Philosophien werden in Schatzecken großer Bibliotheken bewahrt, die Philosophie, die Grundidee der Mail Art geht verloren, wenn nicht Gedanken-Archive derartige quasi kommunikative Lebensformen aufbewahren. Die Arbeit und der Enthusiasmus von Niels Lomholt hat in diesem Sinne eine historisch-globale Bedeutung, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
Das „künstlerische“ Kommunikationsschema der Mail Art
Kunsthistorisch gesehen, ist die Mail Art nirgends einzuordnen. Berührungsstellen zu Dada, zu Fluxus, zu Nouveaux Realism und zur visuellen und konkreten Poesie sind feststellbar, aber nicht die Wurzeln oder Vorläufer. Es gibt auch nicht DIE Mail Art, EINE Ausdrucksform oder EINEN Stil. Mail Art ist „ eine Geschichte der Einstellung zum Leben, und innerhalb des Mail Art Netzes sind sehr verschiedene und gegensätzliche Vorstellungen vorhanden“.4 Ihre Existenz verdankt sie zunächst einmal dem Bedürfnis, aktuelle Möglichkeiten der ungewöhnlichen Kulturproduktion zu erforschen, wie es eigentlich alle Neuerungen in der Kunst, aber auch woanders, zum Inhalt haben, nämlich das gezielte Anvisieren einer Gestaltung elementarer Kommunikations- und Artikulationsformen.
Mail Art wird mit „KUNST“ in Verbindung gebracht, weil sie schöpferische Kräfte mobilisiert, aber auch demokratisiert, was fast alle Kunstspielformen davor in dieser global-kommunikativen Weise nicht fertiggebracht haben, abgesehen von einigen provozierten vorprogrammierten Reaktionen des Publikums bei Happenings, Aktionen, Performances oder Installationen, wo die Mitbeteiligung des Publikums vom Künstler bereits kanalisiert wird. Schöpferische Eigentätigkeit fehlt hier weitgehendst und Spontaneität wird vorgetäuscht.
Eine der wichtigsten Funktionen von Kunst, das Leben immer wieder ins Gleichgewicht zu bringen, hat sich gewandelt. Nie war das Kommunikationsbedürfnis des Menschen so wichtig und entscheidend wie gerade heute. Deshalb muss schöpferisches Spielen und Mitspielen dort angeboten werden, wo für Jeden Entdeckungen im Bereich der Sinneswahrnehmungen gemacht werden können. Das Spielfeld muss im Alltag beheimatet sein, der Handlungsspielraum muss bekannt sein, die Medien müssen allen zugänglich sein. Die Mail Art zeigt nicht Wege, auf denen man gehen kann oder gehen muss, sie zeigt, dass man überhaupt gehen kann. Und zwar jeder, der schreiben und lesen kann, - eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für menschliches Existieren überhaupt, - ist potentieller Akteur.
Eine Reaktion vor einem Kunstwerk ( wie es üblich ist) ist nicht der Abschluss des Wechselspiels zwischen Kunstwerk und Betrachter, sondern die Reaktion schlägt bei der Mail Art um in eine Aktion, und zwar in eine aktive, kooperierende, materiale Aktion. In keiner Kunstform vor der Mail Art ist der Kreis derer, die aktiv integriert sind, - nicht nur bewundernd, - so weltweit, so international, so groß gewesen. Mail Art gibt es in allen Erdteilen, in abgelegenen Orten wie in Großstädten, im Osten wie im Westen, in jedem politischen und gesellschaftlichem System, in jeder Altersgruppe. Die Mail Art ist ein soziales Phänomen. Robert Rehfeldt, ein viel zu früh verstorbener Künstler, der seine Mail Art Aktivitäten in der damaligen DDR auf ein qualifiziertes Höchstmaß gebracht hat, schrieb: „Ein wesentlicher Bestandteil (der Mail Art) aber scheint mir zu sein, dass Menschen, Künstler und auch Laien, die sich persönlich gar nicht kennen, über große Entfernungen hinweg näher kommen im Sinne der Völkerverständigung, indem sie Zeichen geben für ein friedliches Nebeneinander, bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Auffassungen. Künstler waren immer die ersten Signalboten, wir sollten es so werten, am besten gleich, frankiert und frei Haus“.5
Die Mail Art ist eine Methode, schöpferische Kräfte freizulegen, Mut zu machen, öffentlich sich mit seinem Tun zu identifizieren, bereit zu sein, mit anderen über seine Ideen zu kommunizieren.
Man könnte das System der Mail Art in vier Felder gliedern, um dem ganzen eine Struktur zu geben, aus der hervorgeht, dass es nicht nur offenes Spielen mit einem Medium ist. Es geht um:
- Infragestellen von nicht-hinterfragten Vorschriften, Bestimmungen und Entscheidungen in der Bürokratie, in der Kultur, in der Politik, in der Ökologie, in der Technologie in allen Sozialformen,
- Darstellen des oft unmenschlichen Benutzens offizieller Anweisungs- und Mitteilungstechniken als Machtmittel,
- Gezielte Anleitung zum bewussten Reflektieren über ritualisierte Normalitäten, und
- Möglichkeiten der Aneignung einer verschütteten Artikulationsmöglichkeit mit der Aufforderung als Absicht, dabei mitzuwirken.
Und das passiert von einfachen spielerischen Kritzeleien als verträumtes Spielen mit dem Schreibwerkzeug bis hin zum zwanglosen Sich-Äußern zu irgendeinem Alltagsgedanken. Spaß gehört ebenso dazu wie der ernsthafte Gedanke.
Dass vor der weltweiten Öffnung der politischen Systeme die Mail Art in Lateinamerika und im gesamten Ostblock die einzige grenzenüberschreitende Kontaktmöglichkeit mit „Gleichgesinnten“ bedeutete, ist ein Aspekt dieser künstlerischen Spielform, der nicht hoch genug gewürdigt werden muss.
Zu danke sei hier im höchsten Maß, dass ein Kunstliebhaben, Mail-Artist und Sammler von theoretischen ideologischen Gedanke zu einer Kunstform, Niels Lomholt, ein Archiv aufgebaut hat, das in aller Zukunft ein Forschungszentrum sein wird, für Beispiele kreativer und kommunikativer ästhetischer Lebensformen.
Klaus Groh
Edewecht, 2014
1. Pedro Salinas (spanischer Schriftsteller 1892 – 1952) in: „ Die Verteidigung der Briefe“, aus „Werbung der Deutschen Bundespost“ ohne nähere Angaben.
2. Klaus Werner, Ausstellungskatalog „Postkarten & KÜNSTLERKARTEN“, Galerie Arkade, Berlin, Nov. 1978, S. 18.
3. vgl. Joachim Fiebach, „Kreativität und Dialog“ Berlin, 1983, S. 15 ff.
4. Mike Crane „Eine Geschichte der Correspondence Art“ (nicht erschienenes Manuskript), New York, 1984.
5. Robert Rehfeldt, „Kunst frei Haus“ Ausstellungskatalog „Postkarten & Künstlerkarten“, Galerie Arkade, Berlin, Nov. 1978, S. 84.